Chance für Empathie
Was der Zukunftswissenschaftler Horst Opaschowski schon 2004 in einer Studie prophezeite, ist heute Gewissheit: Eine Ära der anhaltenden Verunsicherung kommt auf uns alle zu. Wir müssen mit Krisenkompetenz und -resistenz leben lernen. Was ihn dennoch positiv stimmt: Die junge Generation blickt optimistisch in die Zukunft.
Herr Opaschowski, wenn Sie auf Ihre eigene Forschung blicken oder auf die Ihrer Kollegen: Für wie wahrscheinlich hätten Sie noch 2019 das Szenario einer weltumspannenden Pandemie gehalten?
Im Unterschied zu Voraussagen, die heute jeder machen kann, müssen Prognosen von Zukunftswissenschaftlern glaubwürdig, verlässlich und nachprüfbar sein. In meiner Zukunftsstudie „Deutschland 2020“ aus dem Jahr 2004 finden sich zwei Prognosen: erstens die, ich zitiere, „Verseuchung der Erde durch Bakterien und Viren“ und zweitens die Folgerung „Die Bundesbürger werden sich schlechter fühlen als heute, weil Ungewissheit,
Unübersichtlichkeit und Unsicherheit regieren“. Mein seinerzeit für unwahrscheinlich, aber möglich gehaltenes Worst-Case-Szenario ist im Krisenjahr 2020 leider Wirklichkeit geworden.
Wahr geworden sind aber auch zwei positive Szenarien.
Ja. Erstens das gesundheitsorientierte Lebenskonzept mit Gesundheit als wichtigstem Gut. Und zweitens das sozialorientierte Lebenskonzept mit Familie und Kindern als zentralem Identifikationsbereich. In der Tat: Aus der Pandemie ist eine Chance für Empathie geworden.
Inzwischen sind Millionen Bundesbürger geimpft, wir alle sehnen uns nach gesellschaftlicher Normalität, die ja nun langsam zurückzukehren scheint. Oder lässt uns das Thema Pandemie vorerst nicht los?
Machen wir uns nichts vor: Das Thema Krise lässt uns nicht mehr los. Weitere Pandemien sind im nächsten Jahrzehnt möglich, vielleicht sogar mehrere Krisen zeitgleich.
Trotzdem blickt die junge Generation zuversichtlich nach vorn.
Insgesamt gesehen ja. Einerseits begreift sich die junge Generation heute schon als „Generation Krise“. In meiner Repräsentativstudie über „Die semiglückliche Gesellschaft“ kann ich jedoch nachweisen: Es gibt keine andere Generation, die trotz weltweiter Umwelt-, Wirtschafts- und Gesellschaftskrisen so optimistisch in die Zukunft schaut wie die junge Generation. Bei 91 Prozent der 14- bis 25-Jährigen überwiegt die positive Einstellung zum Leben – trotz Krise. Die Jugend ist ein wahrer Hoffnungsträger für die Zukunft.
Die Pandemie hat die ganze Welt kalt erwischt. Was können und müssen wir lernen, um künftig besser vorbereitet zu sein?
Als Zukunftswissenschaftler will ich nicht die Zukunft voraussagen. Mein Hauptanliegen ist es vielmehr, darauf hinzuweisen, dass wir auf zukünftige Entwicklungen, die noch beeinflussbar oder gar veränderbar sind, gut vorbereitet sein sollten. Dies ist meine berufliche Bringschuld, woraus sich aber auch eine Annahmepflicht von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft ergibt. Engländer würden sagen: „Hope for the best – prepare for the worst.“Dann kann es auch nicht passieren, wie Sie befürchten, von Krisen und Konflikten kalt erwischt zu werden.
Hat die Krise aus Ihrer Sicht auch positive Entwicklungen in Gang gesetzt?
Die Chinesen haben für Krise und Chance nur ein Schriftzeichen. So gesehen hat uns die Pandemie nicht nur erschüttert, sondern auch grundlegend zum Positiven verändert – für lange Zeit, vielleicht für immer. Die Familie wird das Wichtigste im Leben sein. Ohne Gesundheit geht gar nichts mehr. Die Sehnsucht nach Sicherheit wird so groß sein wie der Durst nach Freiheit. Zeit wird so wertvoll wie Geld. Durch Homeoffice und den Digitalisierungsschub nähern sich Berufs- und Privatleben an. Besser zu leben, wird wichtiger sein als immer mehr zu haben. Und: „Konsum nach Maß“ lautet die neue Glücksformel. Die Menschen wollen bescheidener leben.
Blicken Sie für uns in die Glaskugel. Wie wird sich die Gesellschaft weiterentwickeln?
In allen Lebensbereichen – von Arbeit und Konsum über Gesundheit, Pflege und Familie bis zu Umwelt und Gesellschaft – dominiert ein neuer „realistischer Optimismus", der nachhaltige Spuren hinterlässt. Die Krise macht die Menschen und die Gesellschaft stärker und selbstbewusster. Aus der Anspruchs- und Versorgungsgesellschaft wird eine Mitmach- und Zusammenhaltgesellschaft – nach dem Motto: „Ich helfe dir, damit auch du mir hilfst.“ Unter dem Eindruck der Pandemie entwickelt sich eine Gemeinschaft auf Gegenseitigkeit, die für Egoismus keinen Platz mehr hat.
Sie bleiben also trotzdem zuversichtlich?
Ich bin und bleibe semiglücklich. Das nenne ich realistischen Optimismus.
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