Wenn absurde Schönheitstrends krank machen
Essstörungen: Starker Anstieg bei jungen Frauen – KKH bietet Programm gegen Bodyshaming an
Hannover, 25.04.2024
Legging Legs oder Thigh Gap, A4-Taille oder Paper Waist: Solche riskanten und in sozialen Medien immer wieder propagierten Schönheitstrends können die Psyche stark belasten. Vermeintlich perfekte Bilder von vermeintlich perfekten Körpern auf Instagramm, TikTok & Co. schüren vor allem bei Jugendlichen Selbstzweifel, die zu seelischen Erkrankungen wie Essstörungen führen können. Junge Frauen scheinen besonders belastet zu sein, denn laut Daten der KKH Kaufmännische Krankenkasse sind die Fälle von Magersucht, Bulimie und Binge Eating bei den 12- bis 17-jährigen Mädchen stark angestiegen: von 2012 auf 2022 von 90 auf 139 Fälle pro 10.000 Versicherte. Das entspricht einem Plus von rund 54 Prozent. Auch die Corona-Pandemie scheint vor allem den Teenagerinnen auf die Seele geschlagen zu sein, denn allein vom Vor-Corona-Jahr 2019 auf 2022 registriert die KKH bei ihnen eine Zunahme von 38 Prozent (von 101 auf 139 pro 10.000 Versicherte).
Der Anteil der 12- bis 17-jährigen Mädchen mit Essstörungen ist im Vergleich zu den gleichaltrigen Jungen (38 Fälle pro 10.000 Versicherte) etwa viermal so hoch, verglichen mit dem Bundesdurchschnitt (54 Fälle pro 10.000 Versicherte) gut zweieinhalbmal so hoch. 2022 wurden laut KKH-Hochrechnung insgesamt rund 455.000 Menschen in Deutschland wegen Magersucht, Bulimie oder Binge Eating ambulant behandelt.
Social-Media-Plattformen sind ein Kosmos der Filter, gestellter Bilder und häufig unrealistischer Körpertrends – etwa eine Taille, die so dünn ist wie ein DinA4-Blatt. Doch gerade junge Frauen sind anfällig für solche Ideale. „Sie vergleichen sich intensiver in sozialen Medien als gleichaltrige Jungen und beschäftigen sich stärker mit sich selbst. Außerdem spüren sie einen höheren Druck, Schönheitsidealen zu entsprechen“, sagt KKH-Psychologin Franziska Klemm. Erst Ende 2023 sorgte ein gefährlicher Trend unter dem Hashtag #legginglegs für Aufsehen, als Frauen Videos in engen Hosen posteten und dabei die Lücke zwischen ihren Oberschenkeln anpriesen. Bereits vor rund zehn Jahren kursierte unter dem Namen ‚Thigh Gap‘ ein ähnlicher Hype, der einen durchgängigen Freiraum zwischen den Innenseiten der Oberschenkel als besonders begehrenswert propagierte. „Es ist immer kritisch, wenn jungen Frauen in sozialen Netzwerken eingeredet wird, dass ihre Schönheit und ihr Selbstwert von einer unnatürlich schmalen Taille oder einer Lücke zwischen den Oberschenkeln abhängen, vor allem, weil es oftmals nicht in ihrer Macht liegt, dieses unnatürliche Körperbild zu erreichen“, betont Klemm. Denn: Eine Lücke zwischen den Oberschenkeln ist nicht nur durch Körpergewicht und Fitness bedingt, sondern auch durch den Körperbau. „TikTok-Trends wie Legging Legs zeigen, wie riskant soziale Medien für das eigene Körperbild sein können. Denn viele junge Frauen hinterfragen ihren Körper und ihr Essverhalten, wenn sie sehen, dass enge Hosen angeblich nur für Menschen mit dünnen Beinen gemacht sind“, gibt die KKH-Expertin zu bedenken. Besonders gefährlich: Solche absurden Schönheitstrends sind auch häufig Nährboden für Bodyshaming. Wer so gar nicht dem Ideal entspricht, wird mit entsprechenden Bemerkungen bis hin zu heftigen Beleidigungen bombardiert, schlimmstenfalls ausgegrenzt. Mädchen und Frauen sind besonders häufig Opfer von Bodyshaming, weil sie stärker über ihr Aussehen definiert werden als Männer.
Je intensiver die Nutzung sozialer Medien ist, desto größer ist auch das Risiko für eine Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, für Bodyshaming und damit verbundene Essstörungen. Das könnte auch den deutlichen Anstieg der KKH-Zahlen während der Pandemie erklären, denn in dieser Zeit haben sich Kinder und Jugendliche noch intensiver mit Instagram und TikTok sowie den dort vermittelten Bildern beschäftigt. Besonders anfällig für Essstörungen sind Heranwachsende, die bereits unter seelischen Problemen leiden oder einen geringen Selbstwert haben. Franziska Klemm rät Angehörigen, Lehrern, Bekannten und Freunden, genau hinzusehen. Zu den Alarmzeichen zählen, wenn Betroffene unverhältnismäßig viel Aufwand für das eigene Aussehen betreiben, geliebte Hobbys plötzlich aufgeben und sich nur noch mit sozialen Medien beschäftigen. Weitere Signale sind der soziale Rückzug, Gewichtsveränderungen sowie ein auffälliges Essverhalten (u. a. Diät als Dauerzustand, eingeschränkte Nahrungsauswahl, Verzehr großer Mengen), Erbrechen, die Einnahme von Abführmitteln und exzessiver Sport. Keinesfalls sollten Angehörige und Freunde solche Verhaltensweisen ignorieren, denn: „Bulimie und Magersucht sind schwere psychische Erkrankungen, die häufig mit Angststörungen, Depressionen, selbstverletzendem Verhalten oder Suchterkrankungen einhergehen und ärztlich behandelt werden müssen“, betont Klemm.
Damit es gar nicht erst so weit kommt, ist wirksame Prävention entscheidend: Um Bodyshaming entgegenzuwirken, hat die KKH zusammen mit der Stiftung der Deutschen Lions im Rahmen des Lebenskompetenz-Förderungsprogramms Lions-Quest nun ein neues Kapitel aufgeschlagen: ‚Wer bestimmt, was schön ist? Lookismus und Bodyshaming‘. Es ist Teil des Programms Lions-Quest ‚Erwachsen handeln‘ und soll negative Auswirkungen von Bodyshaming auf die Entwicklung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen verhindern. Im Rahmen von interaktiven Unterrichtseinheiten werden Schüler*innen nicht nur in ihrem Selbstbewusstsein, ihrer Resilienz und Sozialkompetenz gestärkt. Geschulte Lions-Quest Lehrkräfte vermitteln dabei auch ganz konkret, woher der Druck stammt, Schönheitsidealen zu entsprechen, und wie Jugendliche dem standhalten können. Das neue Kapitel soll den Blick auf vielfältige Körperformen lenken und vermitteln, dass Schönheit zahlreiche Facetten hat. Dabei werden Ideen von Menschen aufgegriffen, die häufig aufgrund ihres Aussehens abgewertet und ausgegrenzt werden, etwa aus der Behinderten- oder Fat-Acceptance-Bewegung. Das bundesweit von allen Kultusministerien anerkannte Fortbildungsprogramm für Lehrerinnen und Lehrer hat die nachhaltige Förderung junger Menschen von 10 bis 21 Jahren zum Ziel. Weitere Informationen gibt es unter Lions-Quest – Förderprogramm für junge Menschen | KKH.
Erläuterungen zur Datenanalyse
Basis für die Auswertung nach ICD-10 (F50) sind anonymisierte Daten von KKH-Versicherten aus den Jahren 2012 sowie von 2019 bis 2022. Der Anteil der betroffenen KKH-Versicherten im Jahr 2022 wurde auf die deutsche Bevölkerung hochgerechnet.
Experten unterscheiden unter dem Code F50 drei Hauptformen von Essstörungen:
- die Magersucht (Anorexia nervosa), bei der Menschen bis hin zu einem lebensbedrohlichen Untergewicht hungern ‒ getrieben von der Angst vor einem zu dicken Körper,
- die Ess-Brech-Sucht (Bulimia nervosa), bei der Betroffene einen starken Zwang verspüren, ihr Körpergewicht zu kontrollieren und nach Essattacken erbrechen oder Abführmittel missbrauchen, um nicht zuzunehmen,
- die Binge-Eating-Störung, die mit wiederkehrenden, unkontrollierbaren Essattacken einhergeht und zu starkem Übergewicht oder gar Adipositas führt.
- Franziska Klemm ist Psychologin und Mitarbeiterin im Fachbereich Prävention der KKH Kaufmännische Krankenkasse. Ihre Fachgebiete sind Stress, Sucht sowie psychosoziale Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen.
Mit rund 1,6 Millionen Versicherten, einem Haushaltsvolumen von rund 7,5 Milliarden Euro und rund 4.000 Mitarbeitenden zählt die KKH Kaufmännische Krankenkasse als eine der größten bundesweiten Krankenkassen zu den leistungsstarken Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung. Nähere Informationen erhalten Sie unter Kurzporträt der KKH | KKH.
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