Hannover, 26.09.2023
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Ob Wut aufsteigt, sich Frust breitmacht oder Angst und Traurigkeit lähmen: Die psychische Belastung von Kindern und Jugendlichen nimmt deutlich zu. Das zeigt eine repräsentative forsa-Umfrage im Auftrag der KKH Kaufmännische Krankenkasse unter Eltern von 6- bis 18-jährigen Kindern und Jugendlichen. Demnach haben 40 Prozent der befragten Mütter und Väter das Gefühl, dass ihr Kind in den vergangenen ein bis zwei Jahren vermehrt unter seelischem Stress gelitten hat. Gut ein Fünftel (21 Prozent) der Eltern 6- bis 10-Jähriger hat den Eindruck, dass ihr Kind aktuell psychisch stark belastet ist. Bei Eltern 11- bis 18-Jähriger liegt der Anteil sogar bei knapp einem Drittel (mehr als 30 Prozent).
Auch KKH-Daten zeigen, wie ernst es teils um die psychische Gesundheit von Schüler*innen steht, gerade mit Blick auf junge Frauen im Alter von 15 bis 18 Jahren. Im Fokus stehen Angststörungen, Depressionen und Essstörungen wie Magersucht und Bulimie. „Im Alters- und Geschlechtervergleich sehen wir hier sowohl die größten Zunahmen an Arztdiagnosen als auch die meisten Betroffenen“, berichtet KKH-Psychologin Franziska Klemm. Demnach stieg von 2012 auf 2022 der Anteil der 6- bis 18-jährigen Versicherten
Eine untergeordnete Rolle spielen indes Diagnosen wie Schlafstörungen, psychosomatische Beschwerden sowie Störungen des Sozialverhaltens. Auch mit Blick auf die Corona-Pandemie sind es vor allem Angststörungen, Depressionen und Essstörungen, die überproportional zugenommen haben: Bei Angststörungen registrierte die KKH vom Vor-Corona-Jahr 2019 auf 2022 ebenfalls bei den 15- bis 18-jährigen Frauen einen besonders starken Anstieg von 40 Prozent (von 3,6 auf 5,1 Prozent), bei Depressionen von fast 30 Prozent (von 6,8 auf 8,7 Prozent) und bei Essstörungen von rund 44 Prozent (von 1,4 auf 2,0 Prozent). Weniger betroffen sind hingegen Grundschulkinder im Alter von sechs bis zehn Jahren. „Bei ihnen beobachten wir teils sogar rückläufige Zahlen“, sagt KKH-Expertin Klemm.
Was dem Nachwuchs auf die Seele schlägt
Doch sind es allein die Nachwirkungen der Corona-Krise, die Kinder und Jugendliche – und vor allem junge Frauen – so stark belasten? „Die Folgen dieser mehrjährigen Ausnahmesituation sind noch gegenwärtig“, sagt Franziska Klemm. Viele Schüler*innen stünden unter Druck, in der Pandemie Versäumtes nachzuholen, das Schuljahr mit guten Noten abzuschließen, einen Abschluss zu schaffen, der eine solide berufliche Zukunft ermöglicht. Laut forsa-Umfrage geben gut zwei Drittel (69 Prozent) der Eltern, deren Kind sich psychisch stark belastet fühlt, Leistungsdruck in der Schule oder bei der Ausbildung als Auslöser dafür an. Die Hälfte nennt die hohen Ansprüche des Kindes an sich selbst als Grund für seelischen Stress. Für 30 Prozent sind es hingegen fehlende soziale Kontakte und Einsamkeit.
„Während der Pandemie haben Mädchen häufig besonders unter dem Alleinsein gelitten“, sagt Franziska Klemm. Ein möglicher Grund dafür ist, dass enge soziale Bindungen für sie in der Pubertät eine größere Rolle spielen als für Jungen. „In den Lockdown-Phasen konnten Jungen ihre sozialen Bedürfnisse vielleicht besser ausgleichen, indem sie sich anstatt auf dem Fußballplatz bei Onlinespielen austauschten, während Mädchen den persönlichen Kontakt zur besten Freundin vermissten“, erläutert die Psychologin. Es sei nicht einfach, das Fehlen solch enger emotionaler Bindungen zu kompensieren.
Die Corona-Pandemie ist es aber nicht allein, die dem Nachwuchs auf die Seele schlägt: 42 Prozent der Eltern psychisch stark belasteter Kinder geben zwischenmenschliche Konflikte als Grund dafür an, knapp ein Drittel (32 Prozent) nennt Mobbing in der Schule oder in sozialen Netzwerken als Ursache. Eine Rolle spielen darüber hinaus allgemeine Zukunftsängste, bedingt beispielsweise durch den Klimawandel und gesellschaftliche Veränderungen (29 Prozent).
Doch wie reagieren Kinder und Jugendliche auf seelischen Druck? „Belastende Ereignisse lösen zunächst einmal Emotionen aus. Diese können bei Heranwachsenden mitunter auch heftig ausfallen“, sagt Franziska Klemm. Die häufigsten Reaktionen von Kindern und Jugendlichen auf seelischen Stress sind laut forsa-Umfrage Traurigkeit und Rückzug: Das sagt jeweils etwa die Hälfte der befragten Eltern, deren Kind psychisch stark belastet ist. Fast ein Drittel (31 Prozent) berichtet, dass der Nachwuchs schon einmal mit Angst auf psychischen Druck reagiert hat – etwa mit der Angst vor anderen oder davor, in die Schule zu gehen. 29 Prozent sagen, dass ihr Kind unter emotionalem Druck wütend wird und andere anschreit oder handgreiflich wird. 14 Prozent der Eltern stark belasteter Kinder und Jugendlicher berichten von einer Aggression des Kindes gegen sich selbst, etwa durch eine Selbstverletzung.
Emotionen im Griff: Präventionsprogramm senkt selbstverletzendes Verhalten
Dr. Wolfgang Matz, Vorstandsvorsitzender der KKH, betont: „Kinder und Jugendliche sind unsere Gestalter*innen und Entscheider*innen von morgen. Ihnen ein gesundes Aufwachsen zu ermöglichen, ist für unsere Gesellschaft von grundlegender Bedeutung. Als Krankenkasse halten wir es daher für wichtig, nachweislich wirksame Präventionsprojekte zu unterstützen und zu entwickeln, die unseren Nachwuchs widerstandsfähig gegen psychische Erkrankungen machen.“ Hier setzt eine Studie der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums Würzburg an, das die KKH bei der Entwicklung von Präventionsprogrammen begleitet. Ein Forschungsteam um Professor Dr. Marcel Romanos, Klinikleiter und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, hat im vergangenen Jahr rund 880 Schüler*innen im Durchschnittsalter von 11 bis 14 Jahren zu ihrem psychischen Befinden befragt: Rund elf Prozent gaben an, sich selbst zu verletzen, etwa in Form von Ritzen. „Selbstverletzendes Verhalten ist ein außerordentlich häufiges Phänomen im frühen Jugendalter. Es ist Ausdruck von starken emotionalen Anspannungszuständen und der mangelnden Fähigkeit, Gefühle adäquat zu regulieren“, erläutert Studienleiter Romanos. „Selbstverletzung ist ein Hochrisikofaktor für schwere psychische Erkrankungen wie Depressionen und suizidales Verhalten.“ Dramatisch: Laut der Würzburger Studie hatten 30 Prozent der befragten Schüler*innen schon einmal Suizidgedanken.
Entgegenwirken soll hier das neue schulbasierte Präventionsprogramm „DUDE – Du und deine Emotionen“, das die KKH unterstützt. Es richtet sich an Schüler*innen der sechsten und siebten Klassen und hat das Ziel, die Regulation von Gefühlen zu fördern, die mentale Gesundheit langfristig zu stärken und so psychische Erkrankungen zu vermeiden. „Der Gedanke ist, die Resilienz von Jugendlichen frühzeitig zu verbessern – noch bevor emotionale Belastungen ein kritisches Ausmaß annehmen können“, erläutert Marcel Romanos. Erste Analysen zeigen vielversprechende Ergebnisse: „Wir können bereits jetzt davon ausgehen, dass DUDE das Potenzial hat, Jugendliche vor selbstverletzendem Verhalten und Suizidalität zu schützen.“
Dr. Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzt*innen e.V. (BVKJ) betont: „Die Daten zeigen deutlich, wie hoch die psychische Belastung bei Kindern und Jugendlichen tatsächlich ist. Das ist eine Entwicklung, die wir seit langem beobachten müssen und die sich während der Corona-Pandemie leider weiter verschärft hat. Die Bedürfnisse und Bedarfe unserer jüngsten Generation sind bei der Pandemiebekämpfung von der Politik viel zu lange ignoriert worden. Jetzt geht es darum, die sozialen und leider auch psychischen Folgen der Pandemie für Kinder und Jugendliche aufzufangen. Das wird nicht gehen, ohne dass die dafür notwendigen personellen und finanziellen Ressourcen bereitgestellt werden.“
Nähere Informationen zum Projekt DUDE und weiteren KKH-Programmen rund um die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen gibt es unter
Hinweis für die Redaktionen: Die Aufzeichnung des Livestreams der Pressekonferenz ist unter kkh.3pc.de/ verfügbar.
Hintergrundinformationen
Das Meinungsforschungsinstitut forsa hat im August 2023 im Auftrag der KKH 2.003 Personen im Alter von 25 bis 69 Jahren mit 6- bis 18-jährigen Kindern deutschlandweit sowohl telefonisch als auch online repräsentativ befragt. Eltern mit mehreren Kindern wurden zu dem Kind befragt, das zuletzt Geburtstag hatte.
Die KKH hat darüber hinaus Daten zu folgenden psychischen Diagnosen von rund 190.000 sechs- bis 18-jährigen Versicherten für die Jahre 2021, 2019, 2017 und 2011 ausgewertet: Angststörungen (F41, rund 3.500 Fälle in 2022), akute Belastungsreaktionen, traumatische Belastungsstörungen und Anpassungsstörungen (F43, rund 7.500 Fälle in 2022), depressive Episode und wiederkehrende Depression (F32 und F33, rund 4.600 Fälle in 2022), Essstörungen (F50, rund 1.300 Fälle in 2022), Schlafstörungen (F51 und G47, rund 2.300 Fälle in 2022), somatoforme Störungen (F45, rund 4.800 Fälle in 2022), Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (F91 und F92, rund 5.600 Fälle in 2022). Die drastischsten Veränderungen zeigen sich bei Angststörungen, Depressionen und Essstörungen.
Die genannten Daten der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums Würzburg basieren auf einer Studie zum psychischen Befinden von Schüler*innen im Alter von 11 bis 14 Jahren, die in dem folgenden wissenschaftlichen Paper veröffentlicht wurde: Christin Scheiner, Jan Grashoff, Nikolaus Kleindienst, Arne Bürger: Mental disorders at the beginning of adolescence: Prevalence estimates in a sample aged 11-14 years (Public Health in Practice, 2022).
Mit rund 1,6 Millionen Versicherten, einem Haushaltsvolumen von mehr als sieben Milliarden Euro und rund 4.000 Mitarbeitenden zählt die KKH Kaufmännische Krankenkasse als eine der größten bundesweiten Krankenkassen zu den leistungsstarken Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung. Nähere Informationen erhalten Sie unter kkh.de/presse/portraet.
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