

Neuaufstellung der ambulanten Versorgung notwendig
Im Fokus der Reformpolitik der Ampel-Koalition steht die Neuaufstellung der stationären Versorgung. Zu Recht: Der stationäre Sektor verursacht den höchsten Anteil der Gesundheitskosten bei gleichzeitiger Zunahme systematischer Versorgungsdefizite auf der einen und sektoraler Überversorgungen auf der anderen Seite. Die von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) aufgestellte Regierungskommission Krankenhausreform hat jedoch bereits festgestellt, dass eine Krankenhausreform nur erfolgreich sein kann, wenn gleichzeitig die ambulante und die sektorenübergreifende Versorgung mit in den Blick genommen werden. Statt sektoraler Einzellösungen, die immer wieder auf dem bestehenden System aufbauen, braucht es einen transsektoralen Reformansatz. Dieser umfasst die ambulante und die stationäre Versorgung, überwindet deren Trennung und ist am Versorgungsbedarf ausgerichtet.
Ähnlich wie der klinische Sektor steht auch die ambulante Versorgung vor strukturellen Problemen. Dabei gibt es genug ambulante Ärzte. Die Arztdichte in Deutschland ist auf einem historischen Höchststand von durchschnittlich rund 200 Einwohner je Arzt. Und auch bei der Kennziffer Arztkontakt besetzt Deutschland einen Spitzenplatz in Europa – rund zehn Mal pro Jahr hat der Deutsche durchschnittlich Kontakt zu einem Arzt. Jedoch ist Masse nicht gleich Klasse und eine hohe Arztdichte bedeutet nicht zwangsläufig eine bessere Versorgungssituation. Die Versorgungqualität ist in Deutschland recht ungleich verteilt. Während in Ballungsgebieten tendenziell eine Überversorgung festzustellen ist, stehen ländliche Regionen oft vor der Herausforderung, Haus- und Facharztsitze zu besetzen bzw. Nachfolger für die aus dem Arztdienst ausscheidende Generation zu finden. Auch die scharfe Trennung der Versorgungssektoren, die doppelte Facharztschiene und der weitgehende Ausschluss nicht-ärztlicher Gesundheitsberufe von der medizinischen Versorgung führen zu Ineffizienzen, Doppeluntersuchungen oder Desorientierung auf dem Versorgungspfad.
Der Koalitionsvertrag enthält eine Reihe von Ansatzpunkten, um die ambulante Versorgung zu verbessern. So möchte die Ampel-Koalition gemeinsam mit den Kassenärztlichen Vereinigungen die Versorgung in unterversorgten Regionen sicherstellen. Im ländlichen Raum sollen beispielsweise Angebote durch Gemeindeschwestern und Gesundheitslotsen ausgebaut werden.
- Grundsätzlich unterstützen wir als KKH das Anliegen, dass die hausärztliche und fachärztliche Versorgung besonders in ländlichen Regionen sichergestellt und an den regionalen Bedarf angepasst wird. Dafür bedarf es unserer Ansicht nach neuer Versorgungskonzepte, die jedoch die bewährten Selbstverwaltungsstrukturen nicht aushöhlen. Wichtig ist auch, dass neue Konzepte einen evidenzbasierten Nutzen nachweisen können, der beispielsweise bei präventiven Hausbesuchen durch Community-Health-Nurses nicht gegeben ist. Hingegen können etwa mobile Sprechstunden an ausgewählten Tagen in benachteiligten Gemeinden in Kombination mit Hausbesuchsmöglichkeiten nach Bedarf eine Lösung für Versorgungslücken sein. Um die Selbstwirksamkeit und Gesundheitskompetenz der Patienten im Versorgungsalltag zu unterstützen, wäre es außerdem wünschenswert, wenn der Spielraum der Kassen erweitert würde, diese auf ihrem individuellen Behandlungspfad zu informieren, zu beraten und zu begleiten.
Als Alternative zur Einzelpraxis der niedergelassenen Ärzteschaft möchte die Ampel-Koalition die Gründung von kommunal getragenen Medizinischen Versorgungszentren (MVZs) und deren Zweigpraxen erleichtern und von Bürokratie entlasten. Die genauere Ausgestaltung von Medizinischen Versorgungszentren bleibt jedoch offen. Darüber hinaus sollen bevölkerungsbezogene Versorgungsverträge, sogenannte Gesundheitsregionen, sowie innovative Versorgungsformen vermehrt implementiert werden.
- Medizinische Versorgungszentren sind bereits mehrfach erprobt und wurden oft als Hoffnungsträger für die Weiterentwicklung der ambulanten Versorgung gehandelt. Das Modell der MVZs ist zwar für die junge Ärzteschaft aufgrund einer besseren Work-Life-Balance attraktiv, hat sich aber als Grundlage für eine Bündelung unterschiedlicher medizinischer Angebote oft nicht etabliert. Vielmehr stellen sie sich nicht selten als rein hausärztliches oder fachgruppengleiches Angebot dar. MVZs sollten dahingehend weiterentwickelt werden, dass sie kein rein ambulantes Versorgungsangebot darstellen, sondern in der sektorenübergreifenden Versorgung als Schnittstelle zwischen ambulanter, hausärztlicher, pflegerischer und stationärer Versorgung positioniert werden. Darüber hinaus sollte im Sinne einer patienten- und qualitätsorientierten Versorgung der Einfluss von systemfremden Investoren, die ausschließlich Kapitalinteressen verfolgen, beschränkt werden. Das Modell der Gesundheitsregionen lehnen wir ab. Eine von der Finanzkraft und von Vernetzungsmöglichkeiten der jeweiligen Region oder Kommune abhängige Versorgungsqualität ist zutiefst unsolidarisch und widerspricht dem Auftrag der gesetzlichen Krankenkassen.
Um die medizinische Versorgung in der Zukunft zu sichern, muss bereits jetzt die Ausbildung der zukünftigen Ärzte und medizinischen Fachberufe in den Blick genommen werden. Etwa 22 Prozent der Ärzte in Kliniken und Praxen stehen kurz vor dem Rentenalter. Viele Studienanfänger werden erst nach 12 bis 15 Jahren in der praktischen Versorgung tätig. Die Ampel-Koalition plant jedoch lediglich, die Approbationsordnung mehr auf Digitalisierung, Ambulantisierung, Spezialisierung, Individualisierung und berufsgruppenübergreifende Kooperation auszurichten.
- Das Vorhaben der Ampel-Koalition kann zwar zur Verbesserung der medizinischen Versorgung beitragen, greift aber viel zu kurz. Um die Versorgungslücke der in Rente gehenden Baby-Boomer-Generation zu schließen, muss die Zahl der medizinischen Studienplätze kurzfristig erhöht werden. Schon im Studium muss eine Ausrichtung auf die niedergelassene Tätigkeit möglich sein, um frühzeitig Studenten für eine Hausarzttätigkeit zu gewinnen. Die Attraktivität des Berufs des niedergelassenen Arztes muss insgesamt gesteigert werden, beispielsweise durch eine Ausgestaltungsmöglichkeit im Anstellungsverhältnis. Schließlich bedarf auch die Pflegeausbildung einer Neuausrichtung, um mehr Delegation geeigneter ärztlicher Leistungen an Pflegefachkräfte zu ermöglichen.
Um bessere Planbarkeit für die niedergelassene Tätigkeit zu garantieren und die Attraktivität des Hausarztberufes zu steigern, plant die Ampel-Koalition, die Budgetierung der ärztlichen Honorare im hausärztlichen Bereich aufzuheben. Die Entbudgetierung der Pädiater steht aufgrund der enormen Krankheitswelle bei Kindern und des daraus entstehenden gesellschaftlichen Drucks unmittelbar bevor. Die logische Konsequenz ist aus Sicht der jeweiligen Interessensgruppen die baldige Ausweitung auf alle hausärztlich tätigen Fachgruppen.
- Die Aufhebung der Budgetierung ist kritisch zu betrachten. Obwohl es bereits jetzt im Modell der hausarztzentrierten Versorgung keine Budgetierung mehr gibt, ist der Nutzen einer verbesserten Versorgung nicht nachweisbar. Sinnvoller erscheint, das Vergütungssystem von budgetierten und nicht-budgetären Bestandteilen beizubehalten. Es sichert zum einen die Wirtschaftlichkeit und unterstützt zum anderen die Erbringung förderungswürdiger Leistungen. Eine Einzelleistungsvergütung würde nicht nur zu massiven Belastungen der Beitragszahler führen, sondern auch Risiken für Versicherte durch medizinisch nicht notwendige Behandlungen bergen. Darüber hinaus würde die verbleibende Gruppe der noch budgetierten Arztgruppen deutlich benachteiligt.
Großes Potenzial für die ambulante Versorgung bieten die Digitalisierung und die damit verbundenen innovativen (Fern-)Behandlungsmöglichkeiten. Auch die Ampel-Koalition möchte die Digitalisierung für die Lösung von Versorgungsproblemen nutzen. So sollen regelhaft telemedizinische Leistungen inklusive Arznei-, Heil- und Hilfsmittelverordnungen sowie Videosprechstunden, Telekonsile, Telemonitoring und die telenotärztliche Versorgung ermöglicht werden.
- Dieses Vorhaben ist durchweg positiv zu bewerten. Die Schwierigkeiten liegen jedoch nicht in der guten Absicht, sondern in der Umsetzung. Viele digitale Anwendungen sind bereits heute rechtlich möglich, werden aber zu wenig genutzt. Vorhandene gesetzliche Regelungen ermöglichen bereits seit einiger Zeit telemedizinische Leistungen, die jedoch lange nicht in der praktischen Versorgung ankamen. Obwohl durch die Corona-Pandemie die Nutzung von Videosprechstunden deutlich angestiegen ist, gilt es jetzt, telemedizinische Leistungen dauerhaft zu verstetigen. Für eine bessere Versorgungsqualität sollten den Kassen Diagnosedaten unmittelbar und nicht erst nach Monaten zur Verfügung gestellt werden. Um Versorgungsangebote für die Versicherten individuell und sinnvoll zu gestalten, sollten die Kassen im Rahmen des Gesundheitsdatennutzungsgesetzes weitere Berechtigungen für eine erweiterte und sinnvolle Datennutzung erhalten. Die Nutzerperspektive sollte bei allen Digitalisierungsvorhaben im Fokus stehen.
Die Ausführungen verdeutlichen, dass die Problemlagen in der ambulanten Versorgung sehr kleinteilig und differenziert sind. Für eine erfolgreiche Weiterentwicklung ist es daher wichtig, dass eine (regionale) Fragmentierung der Versorgungs-, Vertrags- und Honorarstrukturen verhindert wird. Es sollten ähnlich wie in der Krankenhausreform bundesweit einheitliche Standards und eine klare Strukturierung ambulanter und sektorenübergreifender Behandlungsformen angestrebt werden.
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